Wohl jeder Staßfurter kennt sie, hat sie betrachtet und berührt: die Glocke, welche
im Tiergarten Staßfurt aufgestellt ist. Auf die Frage, woher sie stammt, hört man
als Antwort oft, sie sei vom "Schiefen Turm", jenem Kirchturm, der nach dem Brand
der Staßfurter Stadtkirche St. Johannis stehen blieb und sich durch den Bergbau unter
Tage nach und nach neigte, bis er schließlich im Jahre 1964 abgerissen wurde.
Diese Antwort ist unwahr, denn dass Geläut der Sankt Johannis- Kirche, gegossen
im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert und mit dem des Prager Domes vergleichbar, bestand aus
vier Bronzeglocken, von denen im Ersten Weltkrieg drei für Rüstungszwecke abgegeben
werden mussten. Die verbliebene kleine Glocke stürzte schließlich beim Brand der Kirche
im Jahre 1947 ab und zerbrach. Aus ihren Resten wurde eine neue Glocke gegossen,
welche sich heute im Turm der Sankt Petri- Kirche auf dem Königsplatz befindet.
Der heutige Tiergarten Staßfurt war einst der Garten der Staßfurter Industriellenfamilie
Adam. Im Jahre 1882 ist im von Staßfurt nur wenige Kilometer entfernten
Dorf Großmühlingen eine neue Kirche einschließlich eines neuen, zweistimmigen Geläutes errichtet
worden. Diese Staßfurter Industriellenfamilie unterstützte den Neubau und zeigte
sich auch später wohlwollend der Großmühliner Kirchengemeinde gegenüber. Auf Initiative
der Familie Adam gelangte die mittelalterliche Glocke der alten und nun bereits abgerissenen
Großmühlinger Kirche zur Verschönerung ihres Gartens Ende der neunzehnhundertdreißiger
Jahre nach Staßfurt.
Es handelt sich bei dieser Glocke um eine sehr alte Glocke, nach der Form und
Entstehungszeit wird sie den Zuckerhut-Glocken zugeordnet. Ihr Guss fand um das Jahr 1275 statt,
somit ist sie die älteste Glocke auf dem Gebiet der heutigen Kernstadt Staßfurt. Jahrhundertelang
läutete sie in der Großmühlinger Kirche, der Meister, welcher sie einst schuf, ist unbekannt.
Auf dem linken Bild erkennen wir einen Riss, der in den dreißiger Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts entstand. Das rechte Bild zeigt ein Medaillon auf der Glocke mit der
Kreuzigungsszene, ein typisches Motiv für deren Entstehungszeit. Dieses Medaillon ist
auch im Großmühlinger Pfarrarchiv in den Aufzeichnungen eines ehemaligen Pfarrers über das
Inventar der dortigen alten Kirche zeichnerisch dargestellt.
Mit der Bodenreform nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Garten der Familie Adam Eigentum der Stadt
und zum Tierpark umgestaltet. Auch die Glocke kam somit in den Besitz der Stadt Staßfurt.
Fast ein Jahrhundert schweigt sie nun, denn von dem Tage an, als sie nach Staßfurt kam,
stand sie nur auf einem Sockel. Eine im Jahre 2004
durchgeführte Klangprobe bescheinigte ihr trotz des Risses einen angenehmen hellen Schlagton b'.
Doch es gibt Pläne, sie instand zu setzen und ihr wieder die Funktion zukommen zu lassen, für
die sie einst geschaffen wurde. Allein ihre Historie wäre es wert!